Zwei gekreuzte Hämmer

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„Aue lohnt sich immer. Ein schickes, altmodisches Stadion, gute Stimmung und verhältnismäßig nette Heimfans“, hatte mich ein Groundhopper-Freund gelockt. Auf der Sollseite einer Auswärtsfahrt in das Erzgebirge standen allerdings fast 600 km Anreise. Das bedeutet mindestens 16 Stunden im Bus - oder eine Bahnreisen, an deren Umsteigepunkten im Osten Deutschlands konfliktbereite junge Herren mit üppigem Zeitbudget auf Zecken zu warten pflegen. Also wählten wir den dritten Weg und fuhren die Strecke mit dem Auto. Treffpunkt unserer vierköpfigen Reisegruppe war um 6 Uhr morgens am Hauptbahnhof, wo einer der Mitreisenden, passend zu den Heimtrikots der Gastgeber, ein lilafarbenes Kuschelkissen ins Fahrzeug lud, um ein bisschen Nachtschlaf nachzuholen. Wie man angesichts solcher Utensilien ein einigermaßen hartes Image für die Reise in den Osten aufrechterhalten soll, konnte er uns allerdings nicht erklären.


Auf der fast leeren Autobahn ging es gut voran, bis wir bei Soltau einen Reisebus mit Namen „Boddensegler“ und dem Kennzeichen NVP für Nordvorpommern sahen. „Wo spielt eigentlich Hansa Rostock?“, lautete die naheliegende Frage. Und konnte es sein, dass unsere speziellen Freunde auf dem Weg in Richtung Abstiegsschlager beim KSC die A7 nehmen?  Der Bus aus dem Feindesland verschwand schnell im Rückspiegel, tauchte aber just in dem Moment wieder auf, als wir auf dem Rasthof Allertal die erste Zigarettenpause einlegten. „Da sind bestimmt nur die Alten und die Guten an Bord“, witzelten wir. Nun ja, es waren eher nur die Alten. Statt für Suptras auf Auswärtsfahrt öffneten sich die Türen für ein Rudel Rentner, die sicher hofften am Ende des Tages Heizdecken mit in ihre zugige Heimat an der Ostsee nehmen zu können.

Wir machten uns natürlich richtig gerade gegen die Oldtras aus Vorpommern, die in Richtung Toiletten davonschlurften (klarer Punkt für St. Pauli also). Weiter ging es durch die blühenden Landschaften von Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die Landesgrenze von Sachsen-Anhalt sorgte für den nächsten Aufreger. „Willkommen im Land der Frühaufsteher“ war dort für die übernächtigten Nord-Supportler zu lesen. Verarschen können wir uns auch alleine – auf den menschenleeren Autobahnen war jedenfalls auch um 8.30 Uhr nichts von den Damen und Herren Frühaufstehern zu sehen.

Inzwischen waren wir dem Zeitplan weit voraus. Dann fielen wir aber etwas zurück, weil einer unserer Mitreisenden einen Parkplatz in Sachsen, der kurz zuvor von Dynamo-Dresden-Fans heimgesucht worden war, geradezu pedantisch gründlich von Kennzeichen verfassungsfeindlicher oder gewaltbejahender Organisationen säuberte. Trotzdem erreichten wir Aue mehr als zwei Stunden vor Anpfiff und stellten das Fahrzeug auf dem für Gästefans ausgewiesenen Parkplatz ab, der sich am Rande einer Plattenbausiedlung befand. Angesichts der etwas trostlosen Umgebung befürchteten wir, dass der Parkplatz kurz nach unserem Abrücken in einen Gebrauchtwagenhandel umfunktioniert werden könnte, aber das stellte sich als übertriebenes Misstrauen heraus.

Ein Shuttlebus brachte uns zum Gästeeingang, wo zu diesem Zeitpunkt nur der Bus der St. Pauli Mafia aus NRW eingetroffen war. Da sich in Aue niemand bereit fand, unseren Hunger und Durst vor dem Stadion marktwirtschaftlich zu betreuen, suchten wir bald den Eingang auf. Hier zeigte sich, dass ein Teil der Gruppe der Maxime „Augen auf beim Kartenkauf“ im Vorfeld nicht genügend gehuldigt hatte. Die vermeintlichen Stehplatzkarten für 12 EUR das Stück entpuppten sich als Sitzer – und die Gästesitzplätze in Aue befinden sich im Heimbereich.

Missmutig trennten wir uns von den beiden Stehern in der Gruppe und machten uns auf in den Weg zum Heimbereich. Doch zwischen uns und den dortigen Verpflegungsständen stand Nummer 375. Nummer 375 war ein großgewachsener, junger blonder Kerl mit leerem Gesichtsausdruck, der sich als Ordner ein paar Euro dazuverdiente. Offenbar hatte ihm seine Mutti vorher noch die Haare geschnitten, damit er etwas mehr Autorität ausstrahlte. Aber irgendwas musste sie abgelenkt haben – der improvisierte Rundschnitt verlieh Nummer 375 eine etwas unprofessionelle Note.

Jedenfalls hatte Nummer 375 heute die Aufgabe, den Sondereingang zwischen Heim und Gästeblock zu bewachen. Und dieser Aufgabe widmete er sich mit Hingabe. Als wir uns zwecks Einlasskontrolle näherten, knallte er das Tor vor uns zu und rief von der anderen Seite des Gitters „Kein Zutritt, hier“.  Mit Mühe entlockten wir ihm und seinem ebenso mürrischen Kompagnon den Weg zum richtigen Eingang.

Dort stellten wir erstaunt fest, dass es sich beim Erzgebirgstadion um eine Drive-in-Sportstätte handelt. In zügiger Abfolge passierten VIP-Fahrzeuge ohne Kontrolle den Einlass – man hätte ohne Probleme eine Zwillingsflack mit ins Stadion nehmen können. Die Lässigkeit beim Einlass fand auf uns ebenfalls Anwendung, so dass wir ohne wesentliche Verzögerung die Verpflegungsstelle im Heimbereich erreichten.

Hier zeigte sich die positive Seite des Missgriffs mit den Tickets: „Ist das richtiges Bier?“, fragte ich misstrauisch den Mann an der Zapfanlage. „Ja, aber eigentlich solltet ihr keins haben“, antwortete er kurz angebunden. „Warum das denn“, fragte ich besorgt zurück. „Euer Ruf eilt Euch voraus!“, entgegnete er. „Dann ist ja sicher bekannt, dass wir anfangen zu randalieren, wenn unser Alkoholspiegel unter 1 Promille fällt“, strahlte ich und bezahlte die erste Runde des Tages.

Da es bis zum Anpfiff noch jede Menge Zeit war, schauten wir uns gründlich um. Das Erzgebirgsstadion ist eine schöne alte Anlage, die in einem Talkessel liegt und trotz Laufbahn wesentlich mehr Charme ausstrahlt als die modernen Arenen. Dazu kommt, dass es viele freundliche Heimfans gibt. Im Nu hatten wir  Gesprächspartner in Lila-weiss um uns geschart, die uns mitgebrachten Schnaps anboten (!) und uns die lokalen Gegebenheiten erläuterten – unter anderem die Gründe für die auffallende Muffigkeit einiger Ordner. „Der da ist ein bekanntes Gesicht in der rechten Chemnitzer Fanszene“, sagte einer der Aue-Fans und deutete auf einen Muskelprotz, der angelegentlich vorbeistolzierte. Blendende Idee der Auer Organisationsleitung, bekannten Fußballschlägern die Gelegenheit zu geben, ihr Fachwissen im Job ein wenig aufzufrischen.

Dann begaben wir uns an den Zaun, um die ankommenden Insassen der Fanladenbusse zu begrüßen. Dabei gerieten wir wiederum in das Blickfeld von Nummer 375, der uns keine Sekunde aus den Augen ließ. Gästefans die sich so einfach neben ihn stellen und andere Gästefans an den Zaun rufen, die ihn wiederum mit Auskunftsersuchen löcherten (Ey 375, gibt es da drinnen richtiges Bier?“) – so hatte er sich seinen Job als Autoritätsperson nicht vorgestellt. Als ich dann auch noch zwei veilchenfarbene Gummienten aus dem Auer Fanshop über den Zaun nach draußen reichte, begannen seine Kiefer zu mahlen. Dass nix rein darf hatte ihm sein Chef ja gesagt. Aber darf was raus? Die intellektuellen Anforderungen seines Berufs begannen ihm sichtlich zuzusetzen. Zu allem Überfluss sprang auch noch die Einlasspforte sperrangelweit auf, nachdem sich ein St. Pauli-Fan leicht dagegen gelehnt hatte. Allmählich fing Nummer 375 an, mir leidzutun.

Wir begaben uns zu unseren Plätzen. Angesichts von rund 100 Gästefans im Sitzbplatzblock, darunter eine ansehnliche Delegation der St. Pauli Skinheads war Zurückhaltung beim Support nicht angebracht. Nach der von mir hochgeschätzten Stadionhymne (Zwei gekreutzte Hämmer und ein großes W – Wismut Aue unsere BSG, Wir kommen aus der Tiefe wir kommen aus dem Schacht – Wismut Aue, die neue Fußballmacht) war von den Heimfans zunächst nicht mehr viel zu hören, zumal  der magische FC das Heft in die Hand nahm und mit 1:0 in Führung ging. Eigentlich konnte nichts mehr schief gehen. Ein Teil des Blocks fand Zeit genug, im Nachbarplatz sitzende Thor-Steinar-Träger mit despektierlichen Gesängen über die negative Korrelation des Tragens von Naziklamotten mit der Größe ihrer primären Geschlechtsmerkmale zu konfrontieren.

In der zweiten Halbzeit leistete unsere Elf einmal mehr Hilfe beim Aufbau eines völlig verunsicherten Gegners und verlor durch ein Last-Minute-Tor noch mit 1:2. Last-Minute-Niederlagen auswärts sind deswegen so gemein, weil man auf der Heimfahrt alle Zeit der Welt hat, sich noch mal mit den Details rumzuquälen.

Vorerst konzentrierten wir uns jedoch auf den Rückweg zum Auto. Entgegen unseren Erwartungen klappte der Shuttlebus-Service hervorragend, und ein verdienter Busfahrer brachte uns sicher zum Gästeparkplatz. Gerade als er seine gefährliche Ladung in die Freiheit entlassen wollte, brach im Bus ein Tumult aus. „Ein Hoch auf unseren Busfahrer“, brüllte die ganze Wagenladung St. Pauli Fans und ließ den guten Mann etwas verwirrt zurück. Soviel Anerkennung für seine Dienstleistung hatte er in seinen 25 Jahren bei den Verkehrstrieben Erzgebirge noch nie bekommen.

Für uns begann jetzt die lange dunkle Teestunde der Fanseele: 5,5 Stunden schlafen, Musikhören und versuchen, nicht dauernd an die Niederlage zu denken.