Rote Karte von Kevin

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Roadmovies werden in Deutschland normalerweise nicht gedreht. Das Land ist schlichtweg zu klein dafür, man kann sich nicht mal anständig verfahren. Wer als Filmregisseur jedoch nicht das Budget für einen Auslandsdreh zusammenbekommt, dem sei als Location die Strecke zwischen Hamburg und Aue empfohlen. Sie führt durch weitgehend ereignislose Landschaften: Niedersachsen – Strommasten und Kühe; Sachsen-Anhalt – nach eigenem Bekunden Land der Frühaufsteher. Da bleibt viel Zeit für den inneren Monolog. Den Scheißfilm wird zwar kein Mensch sehen wollen, aber die Filmförderung der genannten Bundesländer drückt schon dafür ab.

Dem inneren Monolog gab sich auch eine kleine Gruppe von Nord-Support ausgiebig hin, die sich per Pkw zur Saisoneröffnung bei Erzgebirge Aue aufgemacht hatte. Einzige Abwechslung bot der minutenlange Verkehrsfunk und die Spekulation darüber, wo man die beiden Fanladenbusse überholen werde. Tolles Programm.

Doch kurz vor Aue sorgte dann die Trachtengruppe für eine erste Abwechslung. Sie hatte sich strategisch günstig am Autobahnzubringer postiert und untersuchte die rasch länger werdende Autoschlange nach Zecken, die sie auf den fünf Kilometer vom Stadion entfernten Gästeparkplatz leitete. Die Förster gingen dabei mit perfider Präzision vor. Passierte ein Auto mit Hamburger Nummer oder anderen verdächtigen Merkmalen den Beginn der Kontrollzone, winkte Förster 1 mit einem Stäbchen, Förster 2 sprach ins Funkgerät und Förster 3 stoppte das Fahrzeug zwecks Einweisung. Zu unserer Schadenfreude erwischte es auch ein Hamburger Auto mit einer fetten HSV-Raute am Heck.

In der Hoffnung auf einen freundlichen Wortwechsel unter Hamburger Nachbarn in der sächsischen Einöde hängten wir uns an den Wagen und parkten auf dem Gästeparkplatz direkt neben ihm ein. Zu unserer Enttäuschung entstiegen dem entstellten Gefährt jedoch vier braun-weiße Gestalten. Somit übernahm wieder Team Green die Gestaltung des Unterhaltungsprogramms. „Zum Shuttlebus? Da müssen sie ganz hintenrum um den Parkplatz!“, beschrieb ein freundlicher Oberförster mit einer ausladenden Armbewegung den Weg, als wir vor dem Parkplatz standen. Wir gingen die 800 m und fanden den Shuttlebus tatsächlich – 100 Meter von dem Standort des hilfsbereiten Polizisten entfernt.

Am Stadion teilten sich die Wege der Reisegruppe. Die Hälfte der Nord-Supportler hatte sich für Stehplätze und 90 Minuten bedingungsloser Unterstützung für den magischen FC bei knalliger Sonneneinstrahlung entschieden. Die andere Hälfte bewegte sich in Richtung der schattigen Sitzplätze, wo auch bei „Sicherheitsspielen“ echtes Bier in Strömen fließt. Schon am Eingang war zu sehen, dass Aue die Mindestanforderungen für Ordner leicht angehoben hatte.  Zumindest waren diesmal auf Anhieb keine bekannten Gesichter aus der Chemnitzer Hooligan-Szene unter den Security-Leuten zu entdecken. Und Ordner Nummer 375, der bei unserem letzten Auswärtsspiel in Aue, bis an die Grenzen seiner intellektuellen Fähigkeiten gefordert wurde, (siehe auch hier), hatte wohl um eine einfachere Verwendung gebeten.

Bekanntermaßen haben die Gästesitzplätze in Aue eine Besonderheit. Sie liegen direkt im Heimbereich. Angesichts freundlicher Heimfans in den benachbarten Blöcken gibt es keine Sicherheitsprobleme, eher nette Gespräche. Diesmal allerdings hatte das Auer Ticketcenter etwas zuviel für die Integration getan. Aufgrund mangelnder Nachfrage aus Hamburg war der Gästeblock lila-weiß durchsetzt. Das brachte gewisse Risiken mit sich. Mehr als einmal ertappten wir uns, dass wir bei Auer Gesängen einstimmten – zumal die Fangesänge so unterschiedlich nicht sind.
Wenn wir doch einmal eigene Support-Akzente setzen wollten, gab es Ärger. Ein Auer Fan in der Reihe direkt vor uns baute sich mit finsterem Gesichtsausdruck vor uns auf. Wir erwarteten jeden Moment Backenfutter, doch unerwartet kam die Rettung. „Setz Dich wieder hin Kevin“, ermahnte die Mutter den fünfjährigen Knirps, der nun dazu überging jeden Supportversuch eigenmächtig mit Roten Karten und Stadionverboten zu sanktionieren.

Bei soviel Vehemenz des Ultra-Nachwuchses, wollten die Aktivisten der Fanszene von heute nicht zurückstehen. Wochenlang hatten sie auf ihren Sitzungen darüber gegrübelt, wie sie das obligatorische „Scheiß St. Pauli“ um eine noch wirksamere Beleidigung ergänzen könnten. Herausgekommen war ein großes Transpi mit der Aufschrift „Sextouristen“. Wir kamen ins Grübeln, da uns keine entsprechenden Angebote aufgefallen waren – nicht mal die Ordner hatten uns abgetastet. Vielleicht war es doch eher eine misslungene Aktion des Auer Standortmarketings?
Das Spiel selbst ließ es trotz ausgiebigen Zuspruchs zum Vollbier nicht schöntrinken. Ein fades 0:0 gegen einen schwachen Gegner. Ein kleines Grüppchen Auer versuchte nach Abpfiff noch mal, den etwas öden Eindruck, den ihre Heimatstadt bei den Gästefans hinterlassen haben mag, aufzumöbeln. Während rund 200 St. Paulianer auf die Shuttlebusse zu den Parkplätzen warteten, tauschte ein kleines Grüppchen sportlicher Gestalten aus dem Nichts auf. Das Ziel war offenbar, einigen Zecken ein Andenken in Vereinsfarben mit auf den Heimweg zu geben: ein Veilchen. Da spielte  die Polizei jedoch nicht mit und führte die maulenden Hools in Richtung Stadtzentrum weg.

Zurück bleiben wir: mit viel Zeit für den inneren Monolog auf der Rückfahrt.