Zug der Lemminge

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„Mist, er kommt doch noch.“ Während die Mitglieder des freundlichen Fanclubs von nebenan erfreut ihren Präsidenten begrüßten,  der in letzter Minute am Treffpunkt eintraf, drückten sich die restlichen Fahrgäste des Fanladen-Busses 3 tiefer in ihren Sitz. Aus gutem Grund: Wo der Präsi ist, ist seine Musik-CD nicht weit – und die hat es in sich. Die hastige Ansage der Reiseleiterin, dass der CD-Player vermutlich defekt sei, erwies sich leider als unzutreffend und wurde als Finte durchschaut. Konsequenz: Bereits nach wenigen Kilometern auf der Auswärtsfahrt nach Braunschweig krümmten wir uns unter den Rhythmen von Jürgen Marcus, Tony Holiday, Dschingis Khan und Mike Krüger. Nicht nur die Raucher sehnten den ersten Stopp auf dem Rasthof Allertal herbei.

Man kann unter diesen Umständen nicht behaupten, dass die Fahrt wie im Flug verging. Dennoch war irgendwann das Ziel erreicht, und die traumatisierte Busbesatzung konnte auf dem gefängnisgleichen Gästeparkplatz des Eintracht-Stadions den Ort des Leidens verlassen. Dort wurden wir mit äußerstem Respekt empfangen. Eine ganze Hundestaffel der örtlichen Polizei und ein paar Hundertschaften ihrer behelmten Herrchen beschützen den friedlichen Braunschweiger Bürger vor den Horden  aus dem Norden oder umgekehrt.
Nachdem in der Vorsaison eine kleine Gruppe von St. Pauli Fans das Eintracht-Stadion, sagen wir, überhastet betreten hatte, sah sich Braunschweig offenbar veranlasst, bei den Eintrittskontrollen aufzurüsten. Mit anderen Worten: noch mehr Ordner aus Magdeburg und weiter ostwärts versahen ihren Dienst im Eingangsbereich.
Es blieb alles ruhig, und das galt auch für die ersten 12 Minuten und 12 Sekunden des Spiels. Fans beider Seiten verweigerten den Support aus Protest gegen den geplanten Sicherheitskatalog von DFB/DFL. Da einige undisziplinierte Heimfans auf den Sitzplätzen permanent zur Ordnung gerufen werden mussten, klang das ganze wie eine gut gefüllte Schlangengrube. Fairnesshalber muss gesagt werden, dass die Braunschweiger VIP-Fans rechts vom Gästeblock keinen Mucks hören ließen. Sie zogen den Stimmungsboykott sogar die vollen 90 Minuten durch.
Die Braunschweiger Elf zeigte hingegen kein rechtes Verständnis für unsere Fankultur. Sie unterbrach unser „Aux Armes“ mit dem Führungstreffer. Auch Schiri Zwayer erwies sich als Stimmungstöter und schickte Fin Bartels nach einem allenfalls gelbwürdigen Foul unter die Dusche. Zumindest von den St. Pauli Fans die Rote Karte bekamen die Eintracht –Anhänger aus der Nazi-Szene. Sie stehen völlig unbehelligt von Verein und den anderen Heimfans im Fanblock und sind dort wohlgelittener als diejenigen Braunschweiger, die sich an ihrer Anwesenheit stören. Nun ja: Jeder Klub hat die Fans, die er verdient.
Kurz vor der Halbzeit dann bestürzende Bilder: Offenbar vom schlimmen Hunger gepeinigt verließen unsere Freunde von der VIP-Tribüne scharenweise bereits nach 41 Minuten ihre Plätze, um am Halbzeitbüfett möglicht frühzeitig zuzuschlagen. Die Not (oder die Erinnerung daran) muss groß sein im Zonenrandgebiet. Das ganze erinnerte an den Zug der Lemminge. Ein Büffetstürmer lief los, Scharen betuchter Eintracht-Fans drängten sich hinter ihm an die Futterkrippe.
Die St. Pauli Fans zeigten sich tief berührt von diesem Hungermarsch und sorgten am Ende der Halbzeitpause mit einigen Positionslichtern dafür, dass die nunmehr gesättigten VIP bei einbrechender Dunkelheit ihren Platz wiederfanden. Die zweite Halbzeit brachte eine St.Pauli-Elf, die trotz Unterzahl immer besser gegenhielt. Den vermeintlichen Ausgleich für uns durch Gyau pfiff der Schiri ab, wegen einer angeblichen Attacke auf den Braunschweiger Torhüter in Fünfmeterraum. So blieb es beim 0:1 gegen den Spitzenreiter. Die Spieler bedankten sich diesmal ausführlich für den lautstarken Support – nicht nur daran merkt man, dass das Team nach und nach zu einer echten St. Pauli-Mannschaft zusammenwächst. Die Braunschweiger VIP bekamen davon nichts mehr mit. Sie hatten sich bereits nach 85 Minuten vom Acker gemacht. Vermutlich waren noch ein paar Schüsseln auszulecken.
Uns hingegen stand ein langer Heimweg bevor: Ohne Punkte, aber dafür mit Mike Krüger, Dschingis Khan, Tony Holiday und natürlich Jürgen Marcus.