Mit dem Expressfahrstuhl aus der Hölle

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Ohrwürmer sind etwas Schlimmes: Sie kommen uneingeladen und bleiben, wenn es dumm läuft, einen ganzen Tag lang. „Wir steigen auf“, höhnte es am Ende einer unruhigen Nacht vielstimmig durch meinen Kopf. „Wir steigen auf, und ihr steigt ab“. Stöhnend rollte ich mich aus meinem Bett. Es war der Morgen vor dem Abstiegskrimi gegen den Tabellenzweiten und designierten Aufsteiger Eintracht Braunschweig, dessen Fanhorde mich offenbar bis in meine Träume verfolgt hatten.


Noch nie waren meine Gefühle in den letzten Jahren vor einem Saisonabschluss so gemischt. Hoffnung – schließlich spielte Braunschweig keine überragende Rückrunde, Torjäger Kumbela fehlte überdies,  und der Rest der Blau-Gelben hatte vermutlich noch genügend Restalkohol nach der Aufstiegsfete am Vorwochenende intus.
Trauer – die Fußballgötter Marius Ebbers und Florian Bruns gaben ihren Ausstand am Millerntor.
 Nackte Angst –  vor einer gruseligen Relegation in der niedersächsischen oder schwäbischen Provinz..

„Und ihr steigt ab“. Der Ohrwurm nervte mich die ganze Bahnfahrt nach Hamburg über. Zur guten Laune trug auch nicht bei, dass meine Mitfans in der Bahn ebenfalls verdächtig still waren. Selbst üblicherweise trinkfreudige und laute Haufen umklammerten ihre „Danke Marius“-Schilder und starrten mit grauen Gesichtern vor sich hin. Die allenthalben in die Kutten gestopften Plüschtiere, die sich Ebbe zum Abschied gewünscht, bildeten da einen merkwürdigen Kontrast. Betrübt dachte ich an das Drama am Vorabend, als ich gegen erbitterten Widerstand meiner beiden Nachwuchshools versucht hatte, passable Stofftierchen für Ebbe und Bruuuuns freizupressen. Es war aber leider bei einem Werbeschweinchen der lokalen Sparkasse und einem aus irgendwelchen Gründen in Ungnade gefallenen Plüsch-Elefanten geblieben, die jetzt aus den Hosentaschen hervorlugten.

„Und ihr steigt ab“.  Ein Spaßvogel grabschte nach dem Plüschelefanten. „Lass meinen Rüssel los“, blaffte ich ihn an, und er wich erschrocken zurück. Ab dem S-Bahnhof Reeperbahn besserte sich meine Laune etwas. Noch immer ziemlich still, aber irgendwie entschlossen strömte die immer größer werdende Zahl von St. Pauli Fans in Richtung Millerntor. Es lag was Großes in der Luft. Auf dem Südkurvenvorplatz machte ich auf ein Bierchen halt und wartete, bis meine Kartentauschpartnerin kam. So erlebte ich den Einmarsch der Gladiatoren: Die Spieler kamen nicht einzeln mit ihren Karossen, sondern fuhren mit dem Mannschaftsbus vor dem Südkurvenvorplatz vor. Die letzten Meter legten Spieler und Funktionsteam zu Fuß zurück. Dramatische Geste – ich hatte noch das Vorwochenende vor Augen, als der Bus von Werder Bremen durch ein Spalier mit tausenden von jubelnden  Fans vorfuhr. Falls Trainer Michael Frontzeck, der wacker voranging, auf einen ähnlichen Effekt gehofft hatte, wurde er enttäuscht. Ein St. Paulianer lässt sich doch nicht von irgendwelchen Fußballgöttern  bei seinem Bier stören. Lediglich ein paar Spaßvögel schickten unseren Jungs ein paar Buhrufe hinterher, was Schulle und Bruns zu einem breiten Grinsen veranlasste.

„Und ihr steigt ab“. Noch immer ziemlich angespannt ging ich zur Nordkurve, wo ich gerade noch rechtzeitig zum Block besetzen ankam. Was gar nicht nötig gewesen wäre, denn eine Halbjahresproduktion Konfetti wartete in Müllsäcken in den Reihen der Nordsupportler auf den Einsatz. Die offizielle Verabschiedung von Ebbers und Bruns vor dem Spiel war weniger rührselig als zu befürchten war. Offenbar wollte der Verein verhindern, dass die beiden Profis mit nassen Augen und laufender Nase in die wichtige Partie starten mussten. Schließlich musste zumindest Bruns von Beginn an ran. In den verbleibenden Minuten vor Spielbeginn konnte man was physisch spüren, wie sich der Heimbereich des Stadions mit Energie vollsog. Dann endlich AC/DC und ein Konfetti-Nebel , dessen Rest sich noch Tage später an den abgelegensten Stellen meines Körpers fand. War es wirklich Konfetti – oder hatte jemand Rauschdrogen mit versprüht? Unsere Elf legte los, wie in der gesamten Saison noch nicht. Bartels semmelte so gekonnt über das Leder, dass ein Kullerball von Ginczek den Weg ins Netz fand. Dann ein genialer Pass von Bruuuuuns auf Bartels, der legt auf Gincek ab – und die Fans lagen sich in den Armen. 2:0 – doch kein Abstieg?
Trotz Sonntagstermin und Bierverbot im Stadion waren die Kurven nicht mehr zu stoppen. Wechselgesänge und einmal die gesamten Gute-Laune-Charts vom Millerntor hoch und runter. Die Eintracht kam nach der Pause zwar noch mal auf, aber das 3:0 durch Bartels entschied die Partie endgültig. Und dann kam die kitschige Seite der Verabschiedung: Bruuuns zum 4:0, Einwechslung Ebbers und auch er trifft zum 5:0. Freudentränen, trotz des 1:5 durch Korte völlig konsternierte Eintracht-Fans, die gleich mit einem Gesang „getröstet“ wurden. „Ein Jahr, ein Jahr – dann seid ihr wieder da“. Endlich hatte ich einen neuen Ohrwurm – zumal der Abstieg durch die gleichzeitigen Niederlagen von Aue und Dresden kein Thema mehr war.
Nach dem Spiel dann ein Platzsturm. Hunderte von Kuscheltieren überquerten zu Ehren von Ebbers und Bruns den Zaun. Sogar das HSV-Maskottchen Dino Hermann fand den Weg in den Innenraum, wo ihn die Spieler, äh, begeistert hoch leben ließen. Marius Ebbers und sein Sohn schützen den Dino schließlich vor der Meute, indem sie ihn in einer kleinen Höhle am Mittelkreis versteckten Dort wird er in 500 Jahren bestimmt von Fußballforschern gefunden, die dann die Raute dem ewigen Vergessen entreißen.
Ein Nord-Supportler hatte eine besonders kreative Idee. Er hatte sich eine Plüschversion von Super Mario unter den Nagel gerissen, die er von Fußballgott Marius Ebbers signieren lassen wollte. Damit scheiterte er jedoch an der zeternden Mutter des jugendlichen Spenders, die den Plüsch-Mario für ihren Filius zurück reklamierte. Zum Trost sahen wir dann, wie Ebbe und Bruns in Herz-T-Shirts ihre Abschiedsrunde drehten. Auch wenn beide die Shirts nicht am Nord-Support-Container gekauft hatten – irgendwie bleiben beide Spieler dadurch ein kleines Stück Nordkurve.