Zeit für große Gefühle

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Wie viele Gefühle kann man eigentlich während eines einzelnen Spiels durchleben? Beim Saisonfinale gegen den SC Paderborn am Millerntor wurden die Grenzen ausgelotet. Melancholie wegen des Abschiedes von der alten Gegengerade, Wut und Ärger über vom DFB verhängte Stadionverbote gegen St. Pauli-Fans, die sich beim Schweinske Cup gegen einen Angriff Lübecker Hools und Nazis zur Wehr gesetzt hatten; Freude über ein begeisterndes Spiel und den 5:0-Sieg, Irritation über das Affentheater um die angebliche Entlassung von Trainer Schubert, Trauer über den Abschied von Publikumslieblingen wie Carsten Rothenbach und Dennis Naki.

Diese Flut von Emotionen und Botschaften spiegelten sich auch in den Fanaktionen und dem Support rund um die Partie wider. Die Gegengerade verabschiedete sich mit einer Choreo; in der Nordkurve wurde gegen die Stadionverbote protestiert – aber auch nach vorn geblickt. Am 2. Juni rufen Nazis in Hamburg zu einer Kundgebung auf. Nord Support warb mit einer Schalchoreo für die Teilnahme an Gegendemonstrationen.

Dass der magischer FC quasi in letzter Minute den dritten Platz erobern und sich für das Relegationsspiel gegen Herthta BSC qualifizieren könnte, damit hatten vor der Partie nur hoffnungslose Optimisten gerechnet. Doch nach acht Minuten sorgte eine Nachricht aus Düsseldorf für Spannung: Der MSV Duisburg lag gegen den Aufstiegsrivalen Fortuna Düsseldorf überraschend mit 1:0 in Führung – und der magische FC gab mächtig Gas. Zur Pause hieß es 2:0 für unsere Elf und die ersten „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“ Sprechchöre waren zu hören. Leider drehte Düsseldorf das Spiel bis zur Pause: 2:2 hieß es, und Duisburg hatte einen Mann weniger auf dem Platz.

In der zweiten Halbzeit zog St. Pauli auf 4:0 davon. „Nur noch fünf“, brüllten die Nordsitzer in Anspielung darauf, dass bei einem Sieg von St. Pauli und einem Remis in Düsseldorf die Tordifferenz entscheiden würde. Die Nordsteher konnten etwas besser rechnen und entgegneten lautstark „Nur noch sechs“.

Plötzlich explodierte an mehreren Orten im Stadion gleichzeitig die Stimmung. „Was ist los hier?“, brüllten ahnungslose Fans. Irgendwann kam die Antwort. „2:3 in Düsseldorf“ und kurz darauf „2:4“. Eine Ordnerin lief am Zaun entlang und rief immer wieder: „2:4“. Zu schön um wahr zu sein?

Hunderte von Fans griffen gleichzeitig zum Handy, mit dem Effekt, dass keiner ein Netz bekam. So lebte die Hoffnung ein paar Minuten: Ganze Wochenpläne wurden in dieser Zeit gekippt, und die heiße Frage lautete: Wie kriege ich die Tickets? Dann kam jemand zu Hause durch. Achselzucken. „Es steht noch immer 2:2“. „Ihr Arschlöcher. Es steht 2:2“, brüllte ein gefrusteter Fan in die freudig erregte Menge. Einen Moment war Stille. Dann: „Berlin, Berlin, wir scheißen auf Berlin“.

Der Frust hielt sich auch nach Abpfiff in engen Grenzen. St. Pauli war wieder einmal heroisch gescheitert – anders kennen wir es ja eigentlich nicht. Dann eben Sandhausen statt FC Bayern – eine gute Alternative. Am Ende war Zeit für große Gefühle. Ein weinender Deniz Naki und ein trauriger Carsten Rothenbach nahmen mit einer Ehrenrunde Abschied von ihren Fans. Als die beiden Trikots mit den Nummern 23 und 24 auf dem Rasen lagen, entstand zwischen vielen Tränen das letzte Gerücht des Tages: Trainer Schubert habe bei der Einwechslung von Naki und der Auswechslung von Rothenbach zwei und drei beziehungsweise vier Finger hochgehalten – und so persönlich für den unberechtigten Jubel auf den Tribünen gesorgt. Man soll ja keine gute Geschichte durch die Wahrheit entstellen – ja, so muss es einfach gewesen sein.