Wechselgesang mit Schwiegermutter

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Stellt Euch folgendes vor: Ihr kommt von einer längeren Reise zurück und stellt fest, dass der oder die Herzallerliebste in der Zwischenzeit die Wohnung Eurer Schwiegermama renoviert hat. Natürlich hat Euer Schatz Euch das vorher gesagt, aber woher solltet ihr wissen, dass sie/er damit Ernst macht. Die Arbeiten gehen auch gut voran, aber gut Ding will Weile haben. Deshalb ist Schwiegermama vorübergehend bei Euch eingezogen und hat das Kinderzimmer mit Beschlag belegt. Ihr schätzt und mögt die alte Dame ja (auch wegen ihrer offenen Art, Kritik zu üben), aber ihr habt jetzt Mühe, Euch in der eigenen Bude zurechtzufinden.

So oder ähnlich mögen sich manche Nordkurvler im ersten Heimspiel unseres magischen FCs  nach der Sommerpause gefühlt haben. Unsere Kurve war im Grunde so, wie wir sie Anfang Mai verlassen hatten. Aber vieles war anders. Das fing mit der Kartensituation an. Jeder, der keine Dauerkarte hat, musste sehen, dass er sich irgendwie ein Ticket organisierte. Das war auch deshalb etwas prekär, weil Nord-Support eine große Choreo zum zehnjährigen Geburtstag von USP geplant und vorbereitet hatte – und viele der Beteiligten wussten noch zwei Tage  vor dem Spiel nicht, wie sie ins Stadion kommen sollten. Es wurde organisiert, getauscht, aber endgültige Entwarnung gab es erst am Freitag, als die Gegengerade für 4000 Zuschauer freigegeben wurde und rund 1000 Karten an die Tageskasse kamen. In vorderster Linie der Schlange vor  dem Kartencenter waren am Sonnabend dann auch vor allem Alte und Gute aus der Nord anzutreffen.
Weil wir ein Chaos an den Eingängen befürchteten, waren viele Nordler sehr frühzeitig am Millerntor eingetroffen. Das war auch nötig, allerdings nicht wegen langer Schlangen am Einlass, sondern um die hochkomplexen Kartendeals abzuschließen, die sich aus der täglich wechselnden Lage ergeben hatte.
An den Eingängen und den Getränkeständen war die Lage ruhig, fast entspannt. Kein Wunder: Bei 18000 Zuschauern fehlte ein Drittel der Kapazität aus der letzten Saison – und der Verein hatte sich gut vorbereitet. In der Nordkurve war einiges neu. Die Rundung der Nordkurve zur Gegengerade hin war den Bauarbeiten zum Opfer gefallen. Dafür bot sich ein Blick auf die neue Gegengerade, die wirklich imposant wird.
Allzu viel Zeit für solche Betrachtungen hatten Nord Support und andere Gruppen, die sich an der Choreo beteiligten, jedoch nicht.  Die Anspannung stieg. Zum Herz von St. Pauli sollte sich das Bild entfalten, die aus einer Vielzahl von Einzelelementen bestand – alles Zitate aus früheren USP-Choreos. Alles war geplant – nur eines wirkte nicht gut durchdacht. Ein Duo, dass bei einer früheren Choreo bös gepatzt hatte, war mit einem zentralen Element betraut worden: den Riesendoppelhalter mit den Buchstaben USP im goldenen Lorbeerkranz hochhalten. Diesmal hielten die Nerven, und (fast) alles klappte.
Bevor es dann auf dem Platz losging, hieß es Abschied nehmen von Günter Peine, einem hochgeschätzten Mitglied des Alten Stammes, der am 2. August an seinem 92. Geburtstag gestorben war. Ein Gedicht, das Günter Peine auf der 100-Jahr-Feier des FC St. Pauli – vorgetragen hatte, gab einen würdigen Rahmen.
Dann ging es los auf dem Rasen – aber in der Nordkurve war es anders als sonst. Statt dem etwas piepsigen Support aus dem Familienblock, hörte man die testosterongeladenen Gesänge der St. Pauli Skinheads und anderer Gruppen aus der Singing Area der Gegengerade, die dort ihre vorübergehende Bleibe gefunden haben. Dafür fehlte die Unterstützung aus den Blöcken N2 und N3. Dort  hatte die neue Kartensituation mehrere aktive Gruppen auseinandergerissen – und die neuen Sitzplatzinhaber mussten sich erstmal beschnuppern. Gleiches galt übrigens auch für die Stehplätze – auch dort lief beim Support vergleichsweise wenig zusammen. Wird bestimmt besser, nächstes Mal.
Ganz besonders still  war übrigens der Gästeanhang, der nicht mal beim Tor für die Schanzer zu hören war. Zum Glück reparierte Florian Mohr mit einem wuchtigen Kopfball die Sache praktisch umgehend. Besonders umjubelt wurde trotzdem ein Gästespieler: Ralph Gunesch, ehemaliger Publikumsliebling in der Nordkurve, wurde gefeiert, in dem alle Ingolstädter Spieler bei der Nennung  der Mannschaftsaufstellung den Nachnamen Gunesch verpasst bekamen. Felgen-Ralle hätte sich gern revanchieren können, indem er mal über den Ball getreten wäre, aber so weit ging die Liebe doch nicht und es blieb beim 1:1.
In drei Wochen kommt Aufsteiger Sandhausen. Dann gibt es den ersten Heimsieg, eine hoffentlich prallvolle und laute  Nordkurve mit vielen bekannten und neuen Gesichtern – und vielleicht ja auch einen Wechselgesang mit Schwiegermutter.