Choreos und Chirurgie

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Sonnabend, kurz nach 9 Uhr. Ich trotte bei einem kräftigen Wind über den Hamburger Dom in Richtung Nordkurve Millerntor. „Was willst Du denn hier? Das Spiel geht doch erst in vier Stunden los“, ruft mir ein Karussellbremser zu, der irgendwelchen Kram zu einem Müllcontainer bringt. Natürlich hat er Recht, aber was weiß der Mann schon von Choreographien. Heute ist nämlich Choreotag. Am Start ist die größte Choreographie, die die Nordkurve je gesehen hat. Da darf ich nicht fehlen, auch wenn meine Tochter heute einen Qualifikationswettkampf zur Schwimm-Landesmeisterschaft hat und mein Sohn in zwei Stunden für Holsatias F-Jugend das Tor hüten wird.

Es hatte zu Hause nicht mal Streit deswegen gegeben: Eine Blockfahne über die gesamten Stehplätze des Heimbereichs, ein langes Transparent, DIN-A-2-Plakate in weiß und braun auf den Sitzplätzen und rotes Konfetti – die Augen meiner fußballbegeisterten Familie strahlten bei dem Gedanken.

Zugegeben: Ich war nervös. Weil ich im Vorfeld nicht allzu viel beigetragen hatte, hatte ich mich für den Aufbau angemeldet und natürlich auch noch eine Aufgabe bei der Ausführung übernommen. Letztere war allerdings kurzfristig durch die Choreogruppe geändert worden. Offizielle Begründung: Mit meinen 1,98 m sei ich zu groß für das Hochhalten des Transparentes. Ich hatte ja den Verdacht, dass es auch etwas mit einem nicht ganz geringfügigen Patzer von mir bei einer Choreo in der letzten Saison zu tun hatte. „Schweine füttern und nichts anfassen“, dachte ich mit einem schiefen Grinsen, während ich auf die Gruppe am Eingang zur Nordkurve zusteuerte. Die Choreoexperten würden schon irgendeinen Platz für mich finden, wo ich keinen Schaden anrichten kann.

Es war wirklich ein besonderer Tag: Alle 20 Choreohelfer waren pünktlich. Der Nord Supportler, der die Blockfahne mit seinem Auto herangeschafft hatte, stand mit seinem Gefährt sogar schon innerhalb der Absperrung. Zusammen gingen wir in die Kurve, in der mein Lieblingsordner unseretwegen Frühdienst schob.

Die Aufteilung der Aufgaben klappte dank guter Vorbereitung und schriftlicher Aufgabenbeschreibung gut. Ein Teil der Gruppe ging daran, die Blockfahne zu positionieren und sie schnellstmöglich mit einer Folie zu schützen. Das war auch nötig, denn inzwischen hatte ein fieser Niesel- und Landregen eingesetzt. Die Jungs und Mädels standen deshalb unter Zeitdruck, was sich später noch auswirken sollte.

Die meisten Helfer klebten derweil braune und weiße Choreopappen auf den Sitzplätzen fest. Das erwies sich als Sisyphus-Arbeit. In den unteren Reihen nässte der Regen das Papier. Weiter oben zerrte ein böiger Wind an dem Papier und trieb den einen oder anderen Bogen in Richtung Gästeblock. Wir klebten mehrmals nach und verbesserten auch das Verfahren – aber einige Windschneisen blieben uns nicht erspart. Immerhin: Zur Stadionöffnung waren wir im Plan. Trotz des Mistwetters fiel der Stress etwas von vielen der Helfer ab. Zeit genug, vor der letzten Besprechung um 12.30 Uhr noch ein Bier und ein Fischbrötchen zu holen.

Gerade als ich in der Nähe des Nordkurvencontainers einen kräftigen Schluck aus dem Becher nehmen wollte, löste sich von der Tribüne ein weiteres Stück Choreopappe und klatschte in mein Bier. Scheiße. Meine Stimmung verfinsterte sich.

Ich bekam meinen Platz am oberen Ende der Blockfahne links außen in Richtung Gegengerade zugeteilt. Das bedeutete, dass ich mir die Wartezeit nicht mit dem Bepöbeln der Löwenfans verkürzen konnte. War vielleicht auch besser so. Hinter mir erklärte der Abschnittsbeauftragte für das Transparent den Sitzern in der ersten und zweiten Reihe, dass es während der Choreo etwas schwierig mit dem Sehen werden könnte. Gespanntes Interesse, kein Geschimpfe.

Das Interesse sprang auf die Stehplätze herunter. „Ich glaube, die Verrückten planen heute was Großes“, sagte ein Umstehender – gemeinsam wurde die Wetterseite studiert. Die Vorfreude wuchs. Dann der große Moment: Die Blockfahne ging hoch – jedenfalls außen. In der Mitte stimmte irgendwas nicht. Ich prüfte mein Gewissen und sammelte gedanklich Alibis dafür, dass ich der Problemstelle nicht näher als zehn Meter gekommen war. Später erfuhr ich, dass sich die Blockfahne verdreht hatte. Ein gedankenschneller Nord Supportler löste das Problem schließlich mit einem kleinen chirurgischen Eingriff. Die Blockfahne entfaltete sich voll – und wir hörten den Beifall aus den anderen Stadionteilen. Dann erledigte die Transparenzgruppe ihren Job: „Wir kommen aus dem Norden, wir rauben und wir morden“, stand darauf zu lesen.Beim Gitarreneinsatz von Hells Bells ließen wir die Blockfahne los und warfen das rote Konfetti. Das wars. Die Leute strahlten sich an. Zwei Mitvierziger grinsten: „Jetzt sind wir alle Ultras“.

Für uns ging es darum, jetzt das Choreomaterial schnell beiseite zu schaffen. „Alles gut geklappt“ riefen ein paar andere Helfer mir zu. Ein paar Minuten später nahm ich mit einem Armvoll Material den Weg aus der Kurve zum Nordkurvencontainer. Ich war glücklich, aber kaputt. Die ersten 15 Minuten musste der Support mal ohne mich auskommen.

Das ging vielen ähnlich, doch dank der guten Leistung der Boys in Brown und der aufgeräumten Stimmung zog die Nordkurve dann mächtig an. Zumal wir auch noch die entscheidenden Tore von Fin Bartels auf „unser“ Tor fielen. Ach so. Allen hatte es doch nicht gefallen. Als wir nach dem Spiel am Ausgang Spenden sammelten fragte ein Besucher, wofür das Geld denn sei. „Für die Choreo“, lautete die Antwort. „Dafür, dass ich beim Einlaufen nichts sehen konnte? Ihr kriegt nichts“, lautete die Antwort. Na gut. Du uns auch.